Es ist wettbewerbswidrig, wenn ein Online-Portal es ermöglicht, dass ein Arbeitnehmer ohne direkten persönlichen Kontakt mit einem Arzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Schein) erhält (OLG Hamburg, Beschl. v. 29.09.2021 - Az.: 3 U 148/20).
Die Beklagte bot ihren Kunden an, AU-Scheine durch einen mit ihr kooperierenden Arzt im Rahmen einer Ferndiagnose zu erhalten. Hierfür musste der Erkrankte mehrere vorformulierte Fragen online beantworten.
Dies stufte das OLG Hamburg als wettbewerbswidrig ein.
Die Richter nehmen zuerst umfangreich Bezug auf eine ältere Entscheidung von Ihnen (OLG Hamburg, Urt. v. 05.11.2020 - Az.: 5 U 175/19). Nach § 9 S.2 HWG seien Fernbehandlungen zwar durchaus erlaubt, diese müssten jedoch nach den anerkannten Standards erfolgen.
"Die Ausnahmeregelung von § 9 S. 2 HWG setzt voraus, dass ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nach allgemein anerkannten fachlichen Standards nicht erforderlich ist.
Dass die Voraussetzungen dieser Ausnahmeregelung nicht vorliegen, ergibt sich nicht nur – wie der 5. Zivilsenat des hanseatischen Oberlandesgerichts mit Urteil vom 5. November 2020 zutreffend ausgeführt hat – aus dem Gesetzgebungsverfahren, den einschlägigen ärztlichen Berufsordnungen und der COVID-19-bedingten Sonderregelung in § 8 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) des Gemeinsamen Bundesausschusses (GB-A), sondern darüber hinaus auch aus § 4 der AU-Richtlinie.
Denn nach § 4 Abs. 1 S. 1 der AU-Richtlinie sind bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit der körperliche, geistige und seelische Gesundheitszustand der oder des Versicherten gleichermaßen zu berücksichtigen, weshalb die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer unmittelbar persönlichen ärztlichen Untersuchung erfolgen darf."
Und weiter:
"Nach § 4 Abs. 5 der AU-Richtlinie kann die Arbeitsunfähigkeit zwar auch mittelbar persönlich im Rahmen von Videosprechstunden festgestellt werden. Dies ist jedoch nur zulässig, wenn die oder der Versicherte der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt oder einer anderen Vertragsärztin oder einem anderen Vertragsarzt derselben Berufsausübungsgemeinschaft aufgrund früherer Behandlung unmittelbar persönlich bekannt ist und die Erkrankung dies nicht ausschließt.
Nur wenn diese Voraussetzungen eingehalten werden, kann es allgemein anerkannten fachlichen Standards entsprechen, die Arbeitsunfähigkeit ohne eine unmittelbare ärztliche Untersuchung festzustellen. Dies kann der Senat – ebenso wie das Landgericht – entscheiden, ohne ein ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen. Vorliegend fehlt es nach dem Setting der Beklagten zum einen daran, dass schon keine Videosprechstunde in Rede steht. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass die Kunden der Beklagten dem „Tele-Arzt“ bereits bekannt gewesen wären."
Für ebenso wettbewerbswidrig stuften die Richter die Werbeaussage der Beklagten
"100 % gültiger AU-Schein"
sowie
"100 % Akzeptanz bei Arbeitgebern und Krankenkassen"
ein.
Denn es sei sehr fraglich, ob die betroffenen Dritten (z.B. Arbeitgeber oder Krankenkassen) die ausgestellten AU-Scheine akzeptieren würden. Insofern liege eine Irreführung vor:
"Die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit schafft in der Regel die Voraussetzung für den Anspruch der Versicherten auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle oder Krankengeld. (...)
Daran fehlt es hier, denn die von der Beklagten beworbene Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erfolgt (...) unter Verstoß gegen die maßgeblichen rechtlichen Anforderungen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Arbeitgeber bzw. die Krankenkasse – bei Kenntnis von diesem Umstand – die von der Beklagten beworbenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zurückweisen werden.
Dass dies – nach dem bestrittenen Beklagtenvorbringen – bisher noch nicht der Fall gewesen sein soll, steht dem nicht entgegen. Denn aus den übersandten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ergibt sich nicht unmittelbar, dass die Tatsachengrundlage, auf der die Bescheinigung erstellt worden ist, unzureichend war.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Arbeitgeber und Krankenkassen die streitgegenständlichen Bescheinigungen zurückweisen werden, wenn sie von diesen Umständen Kenntnis erlangen. Entgegen der werblichen Angabe besteht somit nicht die 100 %ige Sicherheit, dass die von der Beklagten ausgestellten AU-Bescheinigungen akzeptiert werden."