Der Social-Media-Dienst Twitter darf den Account eines Users nicht ohne Grund sperren. Der Anbieter darf seine Befugnisse nicht grenzenlos ausüben, sondern wird beschränkt durch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes, insbesondere durch die mittelbare Drittwirkung der Meinungsfreiheit (OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.04.2020 - Az.: 3 U 4566/19).
Der Antragsteller hatte einen Account bei Twitter und postete u.a.:
"Aktueller Anlass: Dringende Wahlempfehlung für alle AfD-Wähler. Unbedingt den Stimmzettel unterschreiben. ;-)"
Twitter sah hierin einen Verstoß gegen die im April 2019 aufgestellten Richtlinien zur Integrität von Wahlen und sperrte den Zugang. Diese Bestimmungen sollten vermeiden, dass Wahlen manipuliert oder beeinträchtigt würden.
Zu Unrecht. Twitter stehe zwar ein Hausrecht zu, sei aber gleichzeitig an die Wertungen des Grundgesetzes, insbesondere die Meinungsfreiheit, gebunden, so das LG Nürnberg in der 1. Instanz, vgl. unsere Kanzlei-News v. 23.07.2019.
In der Berufungsinstanz hat das OLG Nürnberg diese Einschätzung im Rahmen eines Hinweisbeschlusses geteilt: Die vorgenommene Äußerung sei als Meinung erkennbar ironisch gemeint und vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, an das sich auch Twitter halten müsse:
"Sowohl die genannte Strafnorm als auch allgemeine Geschäftsbedingungen sind - wegen der unmittelbaren bzw. mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte - im Lichte der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) auszulegen, was gebietet, zunächst zu ermitteln, welcher Inhalt und Aussagegehalt einer Äußerung zukommt und wie diese von Dritten verstanden wird. Ein Verbot unter den genannten Gesichtspunkten kommt nur in Betracht, wenn eine Gefahr, dass das Ergebnis von Wahlen durch fehlerhafte Informationen verfälscht wird, nicht nur theoretisch denkbar ist, sondern ernsthaft in Betracht kommt. "
Und weiter::
"Zum anderen wird der ironische Charakter des tweets dadurch deutlich erkennbar, dass an seinem Ende ein sog. Zwinker-Smiley „;-)“ gesetzt ist. Durch ein solches Zeichen wird, was zumindest dem durchschnittlichen Nutzer geläufig ist, regelmäßig zum Ausdruck gebracht, dass das Vorstehende gerade nicht ernst gemeint ist, so, wie wenn bei einer verbalen Äußerung ein Auge zugekniffen wird. Die Aussagekraft und Erkennbarkeit wird dabei nicht dadurch herabgesetzt, dass sich der Zwinker-Smiley am Ende des tweets und ggf. in einer Zeile darunter befindet. Die entsprechende Positionierung ist üblich. (...)
Berücksichtigen muss der Senat auch, dass es realistischerweise ausgeschlossen erscheint, dass ein Wähler allein aufgrund einer derartigen Kurznachricht einen Stimmzettel unterschreibt, obwohl dort keinerlei Hinweis auf dieses Erfordernis abgedruckt und kein Platz für die Unterschrift vorgesehen ist, während im Übrigen über die wesentlichen Modalitäten zur Stimmvergabe belehrt wird. Spätestens in der Wahlkabine werden daher Zweifel an der Richtigkeit und Ernsthaftigkeit des Hinweises auftreten, die dann zu Nachfragen, Erkundigungen etc. Anlass geben."
Nach dem Hinweisbeschluss hat Twitter die Berufung zurückgenommen.