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Newsletter vom 29.12.2021
Betreff: Rechts-Newsletter 52. KW / 2021: Kanzlei Dr. Bahr


1. EuGH: Gerichtliche Zuständigkeit bei verunglimpfenden Äußerungen über das Internet

2. BVerfG: Äußerung "Antisemit" ggü. bekanntem Sänger von Meinungsfreiheit gedeckt

3. KG Berlin: Vorlage an EuGH, ob in DSGVO-Bußgeldverfahren auch Unternehmen unmittelbar Betroffene sein können

4. OLG Dresden: DSGVO-Schadensersatz setzt Überschreiten einer Bagatellgrenze voraus

5. OLG Frankfurt a.M.: Ausschreibung von Videokonferenzsystemen für die hessischen Schulen rechtswidrig

6. LG Berlin: Online-Shop darf nicht mit Sterne-Bewertungen werben, wenn noch gar keine User-Bewertung vorliegt

7. LG München I: 2.500,- EUR DSGVO-Schadensersatz muss Broker Scalable Capital an Kunden zahlen

8. VG Osnabrück: Presse hat gegen Stadt Anspruch auf Nennung von Name und Anschrift eines Corona-Demo-Veranstalters

Die einzelnen News:

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1. EuGH: Gerichtliche Zuständigkeit bei verunglimpfenden Äußerungen über das Internet
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Verbreitung angeblich verunglimpfender Äußerungen über das Internet: Ersatz des dadurch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entstandenen Schadens kann vor den Gerichten dieses Mitgliedstaates eingeklagt werden

Diese Zuständigkeit setzt lediglich voraus, dass der verletzende Inhalt in diesem Hoheitsgebiet zugänglich ist oder war Gtflix Tv (im Folgenden: Antragstellerin) ist eine Gesellschaft mit Sitz in der Tschechischen Republik, die audiovisuelle Inhalte für Erwachsene produziert und verbreitet. DR, der seinen Wohnsitz in Ungarn hat, ist beruflich im selben Bereich tätig.

Die Antragstellerin, die DR vorwirft, er habe sich auf verschiedenen Websites verunglimpfend über sie geäußert, beantragte bei den französischen Gerichten zum einen die Entfernung dieser Äußerungen sowie die Richtigstellung der veröffentlichten Angaben und zum anderen Ersatz für den durch diese Äußerungen entstandenen Schaden. Die französischen Gerichte sowohl des ersten als auch des zweiten Rechtszugs erklärten sich für unzuständig.

Vor der Cour de cassation (Frankreich) verlangt die Antragstellerin nun Aufhebung des Urteils der Cour d’appel (Berufungsgericht). Dieses Gericht habe gegen die besondere Zuständigkeitsregel des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/20121 verstoßen, wonach die Gerichte „des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“, zuständig seien, indem sie die Zuständigkeit der französischen Gerichte mit der Begründung ausgeschlossen habe, dass es nicht ausreiche, dass die als verunglimpfend erachteten Äußerungen, die im Internet veröffentlicht wurden, im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts zugänglich seien, sondern dass sie zudem geeignet sein müssten, in diesem Zuständigkeitsbereich einen Schaden zu verursachen.

Da nach Auffassung des vorlegenden Gerichts der Mittelpunkt der Interessen der Antragstellerin in der Tschechischen Republik liegt und DR seinen Wohnsitz in Ungarn hat, hat es entschieden, dass die französischen Gerichte für die Entscheidung über den Antrag auf Entfernung angeblich verunglimpfender Äußerungen und die Richtigstellung der veröffentlichten Angaben unzuständig seien.

Das vorlegende Gericht hat jedoch dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die französischen Gerichte für die Entscheidung über den Antrag auf Ersatz des Schadens zuständig sind, der der Antragstellerin im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats dieser Gerichte entstanden ist, selbst wenn sie nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.

Der Gerichtshof (Große Kammer) erläutert in seinem Urteil, wie bei Klagen betreffend über das Internet verursachte Schäden das unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs zuständige Gericht zu bestimmen ist.

Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof stellt fest, dass eine Person, die der Ansicht ist, dass ihre Rechte durch die Verbreitung verunglimpfender Äußerungen über sie im Internet verletzt worden seien, und die sowohl auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der sie betreffenden veröffentlichten Inhalte als auch auf Ersatz des aus dieser Veröffentlichung entstandenen Schadens klagt, vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Äußerungen zugänglich sind oder waren, Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihr in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts entstanden sein soll, selbst wenn diese Gerichte nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.

Zur Begründung dieses Ergebnisses weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach seiner Rechtsprechung die besondere Zuständigkeitsregel des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012, wonach die Gerichte „des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“, zuständig sind, sowohl den Ort des ursächlichen Geschehens als auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs meint und jeder der beiden Orte je nach Lage des Falles für die Beweiserhebung und für die Gestaltung des Prozesses einen besonders sachgerechten Anhaltspunkt liefern kann.

Was mutmaßliche Verstöße gegen die Persönlichkeitsrechte mittels auf einer Website veröffentlichter Inhalte betrifft, weist der Gerichtshof auch darauf hin, dass die Person, die sich in ihren Rechten verletzt fühlt, die Möglichkeit hat, entweder, unter dem Gesichtspunkt des Ortes des ursächlichen Geschehens, bei den Gerichten des Ortes, an dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder, unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Schadenserfolgs, bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet, eine Klage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens zu erheben.

Anstelle einer Klage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens kann diese Person ihre Klage auch vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats erheben, in dessen Hoheitsgebiet ein im Internet veröffentlichter Inhalt zugänglich ist oder war. Diese sind jedoch nur für die Entscheidung über den Schaden zuständig, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts verursacht worden ist.

Folglich kann gemäß Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 in seiner Auslegung durch die bisherige Rechtsprechung eine Person, die sich durch die Veröffentlichung von Angaben auf einer Website in ihren Rechten verletzt fühlt, einen auf Richtigstellung dieser Angaben und Entfernung der veröffentlichten Inhalte gerichteten Antrag entweder bei den Gerichten stellen, die für die Entscheidung über einen Antrag auf Ersatz des gesamten Schadens zuständig sind, d. h. entweder, unter dem Gesichtspunkt des Ortes des ursächlichen Geschehens, bei den Gerichten des Ortes, an dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder, unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Schadenserfolgs, bei den Gerichten, in deren Zuständigkeitsbereich sich der Mittelpunkt der Interessen der betroffenen Person befindet.

Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass ein Antrag auf Richtigstellung von Angaben und Entfernung von Inhalten nicht bei einem anderen als dem Gericht gestellt werden kann, das für die Entscheidung über den gesamten Schadensersatzantrag zuständig ist, weil ein solcher Antrag auf Richtigstellung und Entfernung einheitlich und untrennbar ist.

Dagegen kann sich ein Antrag auf Schadensersatz entweder auf den vollständigen oder auf den teilweisen Ersatz eines Schadens beziehen. Somit wäre es nicht gerechtfertigt, aus diesem Grund dem Antragsteller die Möglichkeit zu nehmen, vor einem anderen Gericht, in dessen Zuständigkeitsbereich er meint, einen Schaden erlitten zu haben, teilweisen Ersatz des Schadens zu beantragen.

Im Übrigen ist der Ausschluss einer solchen Möglichkeit auch nicht im Hinblick auf eine geordnete Rechtspflege geboten, da ein lediglich für die Entscheidung über den in seinem Mitgliedstaat entstandenen Schaden zuständiges Gericht durchaus in der Lage ist, im Rahmen eines in diesem Mitgliedstaat durchgeführten Verfahrens und in Anbetracht der in diesem Mitgliedstaat erhobenen Beweise den Eintritt und die Höhe des geltend gemachten Schadens zu beurteilen

Schließlich setzt die Zuständigkeit dieser Gerichte für die Entscheidung allein über Schäden, die im Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaats entstanden sind, lediglich voraus, dass der verletzende Inhalt in diesem Hoheitsgebiet zugänglich ist oder war, da Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 insoweit keine zusätzliche Voraussetzung enthält. Die Einführung zusätzlicher Voraussetzungen könnte in der Praxis dazu führen, dass der betroffenen Person die Möglichkeit genommen würde, vor den Gerichten des Ortes, in deren Zuständigkeitsbereich sie meint, einen Schaden erlitten zu haben, auf teilweisen Ersatz des Schadens zu klagen.

Urteil in der Rechtssache C-251/20 Gtflix Tv

Quelle: Pressemitteilung des EuGH v. 21.12.2021

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2. BVerfG: Äußerung "Antisemit" ggü. bekanntem Sänger von Meinungsfreiheit gedeckt
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Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen von Fachgerichten, denen eine zivilrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Unterlassung einer Äußerung zugrunde lag, aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an die Fachgerichte zurückverwiesen.

Die Beschwerdeführerin bezeichnete einen bekannten deutschen Sänger im Rahmen eines Fachvortrags zum Thema Reichsbürger unter anderem als Antisemiten. Die Beschwerdeführerin wurde anschließend vor den Fachgerichten dazu verurteilt, es zu unterlassen, wörtlich oder sinngemäß die getätigte Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten.

Die Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, weil die Fachgerichte insbesondere keine konkrete Sinndeutung der Äußerung der Beschwerdeführerin vorgenommen haben, um die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Klägers des Ausgangsverfahrens klären zu können. Darüber hinaus verkennen sie im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin hielt als Fachreferentin im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“. Nach dem Vortrag äußerte die Beschwerdeführerin auf eine Nachfrage, wie sie den Kläger des Ausgangsverfahrens einstufe:

„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“
Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist ein bekannter deutscher Sänger.

Im Jahr 2009 verfasste er unter anderem ein Lied, in dessen vierter Strophe es heißt:

„Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist'n Fuchs und ihr seid nur Trottel“.

Weiter heißt es in einem Liedtext aus dem Jahr 2017 auszugsweise:
„Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“.

Im Jahr 2014 hielt er eine Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte er sich dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung des Klägers des Ausgangsverfahrens waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.

Das Landgericht untersagte der Beschwerdeführerin, wörtlich oder sinngemäß die streitgegenständliche Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten. Die dagegen eingelegte Berufung zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Die beanstandete Äußerung sei zwar eine Meinungsäußerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte. Eine Gesamtabwägung ergebe aber, dass der Eingriff in die Ehre und das Persönlichkeitsrecht rechtswidrig gewesen sei.

Die personale Würde des Klägers sei beeinträchtigt und es sei eine Prangerwirkung gegeben. Die Bezeichnung als „Antisemit“ sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff. Sie sei überdies mehrdeutig und reiche von einem weiten Begriffsverständnis, wonach jeder, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von Juden habe, als Antisemit zu begreifen sei, bis zu einem engen Verständnis, wonach Antisemitismus gleichbedeutend mit Judenhass sei. Dem Werturteil der Beschwerdeführerin liege außerdem ein tatsächlich unrichtiger Äußerungsgehalt zugrunde. Maßgeblich sei, ob die in den Werturteilen enthaltenen Tatsachenbehauptungen zuträfen oder ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt seien. Die objektive Richtigkeit des tatsächlichen Äußerungsgehalts ihrer Aussage sei aber nicht hinreichend belegt.

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg.

Die Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie verkennen im Ergebnis die Voraussetzungen einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Sinnermittlung, die vom Wortlaut der Äußerung ausgeht sowie Kontext und Begleitumstände berücksichtigt. Weiter verkennen sie im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen gebraucht werden.

1. Eine für die Klärung der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Klägers des Ausgangsverfahrens entscheidende konkrete Sinndeutung der Äußerung der Beschwerdeführerin hat das Berufungsgericht bereits nicht vorgenommen.

Die Äußerung der Beschwerdeführerin ist unzweideutig dahingehend zu verstehen, die Beschwerdeführerin halte den Kläger des Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Es bedurfte daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen.

Die Äußerung der Beschwerdeführerin ist entgegen dem Berufungsgericht nicht dahingehend zu verstehen, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinn sogar handlungsbereit sei. Diese Sinndeutung ist fernliegend.

2. Die Fachgerichte sind bei ihrer Abwägung zudem verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an.

3. Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert.

Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit. Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern.

Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein.

Beschluss vom 11. November 2021 - 1 BvR 11/20

Quelle: Pressemitteilung des BVerfG v. 22.12.2021

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3. KG Berlin: Vorlage an EuGH, ob in DSGVO-Bußgeldverfahren auch Unternehmen unmittelbar Betroffene sein können
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Das KG Berlin hat die Frage, ob in DSGVO-Bußgeldverfahren auch Unternehmen unmittelbar Betroffene sein können, dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt (KG Berlin, Beschl. v. 06.12.2021 - Az. 3 WS 250/21).

Es geht dabei um das DSGVO-Bußgeldverfahren gegen die Deutsche Wohnen, vgl. unsere Kanzlei-News vom 06.11.2019. Die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI)  hatte gegen das Unternehmen eine Summe von rund 14,5 Mio. EUR verhängt.

Die Firma wehrte sich erfolgreich gegen den Bescheid und bekam vor dem LG Berlin recht, vgl. unsere Kanzlei-News v. 04.03.2021. Die Richter (LG Berlin, Beschl. v. 18.02.2021 –  Az.: (526 OWi LG) 212 Js-OWi 1/20 (1/20) als rechtswidrig ein, da eine juristische Person nicht Betroffene eines Bußgeld-Verfahrens sein könne.

Nun hatte sich die nächsthöhere Instanz, das KG Berlin, mit dem Fall zu befassen und legte dem EuGH folgende Fragen zur Beantwortung vor:

"1. Ist Art. 83 Abs. 4-6 DS-GVO dahin auszulegen, dass es den Art. 101 und 102 AEUV zugeordneten funktionalen Unternehmensbegriff und das Funktionsträgerprinzip in das innerstaatliche Recht mit der Folge inkorporiert, dass unter Erweiterung des § 30 OWiG zugrundeliegenden Rechtsträgerprinzips ein Bußgeldverfahren unmittelbar gegen ein Unternehmen geführt werden kann und die Bebußung nicht der Feststellung einer durch eine natürliche und identifizierte Person, gegebenenfalls volldeliktisch, begangenen Ordnungswidrigkeit bedarf?

2. Wenn die Frage zu 1. bejaht werden sollte: Ist Art. 83 Abs. 4 - 6 DS-GVO dahin auszulegen, dass das Unternehmen den durch einen Mitarbeiter vermittelten Verstoß schuldhaft begangen haben muss (vgl. Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln), oder reicht für eine Bebußung des Unternehmens im Grundsatz bereits ein ihm zuzuordnender objektiver Pflichtenverstoß aus („strict liability“)?"



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4. OLG Dresden: DSGVO-Schadensersatz setzt Überschreiten einer Bagatellgrenze voraus
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Wird ein Anspruch auf Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO geltend gemacht, erfordert dies ein Überschreiten der erforderlichen Bagatellgrenze (OLG Dresden, Urt. v. 30.11.2021 - Az.: 4 U 1158/21)

Das OLG Dresden hat in einer aktuellen Entscheidung noch einmal bestätigt, dass die Geltendmachung eines DSGVO-Schadensersatzes nur dann in Betracht kommt, wenn eine Bagatellgrenze überschritten ist:

"Entgegen der Auffassung der Beklagten überschritt die Ausspähung des Klägers eindeutig die Bagatellschwelle.

Die Datenweitergabe mit den daraus resultierenden Folgen ging über die reine Privatsphäre oder das Privatverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 2) weit hinaus, denn nachdem dieser die Weitergabe der erhobenen Daten angeordnet hatte, wurden die hieraus gewonnenen Ergebnisse den übrigen Vorstandsmitgliedern des Beklagten zu 1) bekannt gegeben.

Des Weiteren wurde dem Kläger die Mitgliedschaft im Verein versagt, was zwar nicht unmittelbar zu wirtschaftlichen Einbußen geführt, aber sein Interesse beeinträchtigt hat, als Autohändler auch durch die Mitorganisation der Oldtimer-Ausfahrten auf sich aufmerksam zu machen. Des Weiteren musste der Kläger subjektiv damit rechnen, dass die über ihn eingeholten Daten nicht lediglich an zwei Vorstandsmitglieder gelangt sind und damit Details aus seiner Vergangenheit möglicherweise in einem größeren Umfeld bekannt geworden sind."


Verantwortlicher im Sinne der DSGVO sei sowohl die juristische Person (hier: GmbH) als auch ihr gesetzlicher Vertreter (hier: Geschäftsführer):
"Sowohl der Beklagte zu 1) als auch der Beklagte zu 2) sind verantwortlich im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DS-GVO, denn Anknüpfungspunkt für einen Anspruch aus Art. 82 Abs. 1 DS-GVO ist zunächst die „Verantwortlichkeit“, die immer dann zu bejahen ist, wenn eine natürliche oder juristische Person alleine oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und die Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheiden kann und entscheidet (...).

Damit entfällt zwar in aller Regel die Verantwortlichkeit weisungsgebundener Angestellter oder sonstiger Beschäftigter, für den Geschäftsführer, wie es der Beklagte zu 2) zum Zeitpunkt der Beauftragung des Streithelfers war, gilt dies allerdings nicht."



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5. OLG Frankfurt a.M.: Ausschreibung von Videokonferenzsystemen für die hessischen Schulen rechtswidrig
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Die Beschaffung eines datenschutzkonformen Videokonferenzsystems durch das Land Hessen kann nicht auf Basis der bestehenden Vergabeunterlagen erfolgen. Sofern das Land an seiner Beschaffungsabsicht festhält, sind die Vergabeunterlagen unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Vergabesenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (OLG) im Zusammenhang mit der Eignungsprüfung neu zu fassen. Das OLG bestätigte im Ergebnis mit dem heute verkündeten Beschluss die Entscheidung der Vergabekammer.

Das Land Hessen schrieb europaweit die Bereitstellung eines Videokonferenzsystems für alle 2000 hessischen Schulen aus. Das System sollte datenschutzkonform zuverlässig Distanzunterricht ermöglichen, wenn Präsenzunterricht nicht stattfinden kann. Die Kapazität sollte die gleichzeitige Teilnahme von 200.000, in Spitzenzeiten 450.000 Schülern ermöglichen. Die Bieter sollten zum Nachweis ihrer Eignung eine Referenz über die Bereitstellung einer Videokonferenzsystem-Umgebung einreichen.

Das Land Hessen beabsichtigte, einer Mitbieterin der hiesigen Antragstellerin den Zuschlag zu erteilen. Hiergegen richtete sich das von der Antragstellerin eingeleitete Vergabenachprüfungsverfahren. Die Vergabekammer hat wegen Mängeln der Ausschreibung im Bereich der Eignungskriterien das Vergabeverfahren in das Stadium vor Veröffentlichung der Bekanntmachung zurückversetzt. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte vor dem OLG keinen Erfolg.  Das Land sei bei der Eignungsprüfung von einem intransparenten Begriff des Videokonferenzsystems ausgegangen, denn es habe angenommen, dass auch solche Produkte referenziert werden dürften, die noch nicht einmal die Kernelemente der ausgeschriebenen Leistung beinhalteten. Zu den Kernelementen der ausgeschriebenen Leistung gehöre jedenfalls eine Mindestanzahl an gleichzeitig unterstützten Videokonferenzräumen (diese repräsentieren die Klassenzimmer), in denen alle Teilnehmer in Klassenstärke sichtbar seien bei browsergestützter Arbeitsweise.

Die Referenz des Bieters, der nach Einschätzung des Landes den Zuschlag erhalten sollte, habe keine im Ansatz vergleichbare Leistung zum Gegenstand gehabt. Da die Eignungskriterien eine Prognoseentscheidung über die Leistungsfähigkeit der Bieter ermöglichen sollen, müsse das Land in eigener Zuständigkeit seine Ausschreibungsunterlagen überarbeiten. Das Vergabeverfahren sei deshalb auf den Stand der Ausschreibung zurückgesetzt worden.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar.

Quelle: Pressemitteilung des OLG Frankfurt a.M. v. 23.12.2021

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6. LG Berlin: Online-Shop darf nicht mit Sterne-Bewertungen werben, wenn noch gar keine User-Bewertung vorliegt
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Ein Online-Shop darf nicht mit Sterne-Bewertungen werben, wenn zu dem einzelnen Produkt noch gar keine User-Bewertung vorliegt (LG Berlin, Urt. v. 24.09.2021 - Az.: 16 O 139/21).

Die Beklagte verkaufte über ihre Webseite Fahrräder und Fahrradzubehör.

Auf der Übersichtsseite wurden die verfügbaren Fahrräder vorgestellt, u. a. mit einer in gelber Farbe gehaltenen Sternebewertung. Vielfach waren fünf Sterne abgebildet.

Bei Anklicken eines Angebotes erschien die individuelle Produktseite mit einzelnen Details. Dort wurden ebenfalls fünf Sterne angezeigt, nun aber mit dem Zusatz "(0)“. Weiter unten auf der Seite befand sich eine Rubrik "Kundenbewertungen für..."  mit der Information "Leider ist noch kein Eintrag vorhanden", gefolgt von einem Button "Eine Bewertung schreiben".

Dies stufte das LG Berlin als irreführend ein.

Die Irreführung erfolge bereits auf der Übersichtsseite. Denn der potenzielle Käufer gehe davon aus, dass das jeweilige Produkt entsprechend positiv bewertet worden sei.

"Der Gebrauch von „Sternen“ analog zu der bekann­ten Hotelkategorisierung ist im Internet üblich und wird vom Publikum auch so verstanden.

Tatsächlich wird der Interessent, der die Übersichtsseite aufruft, in seiner Erwartung enttäuscht, wenn überhaupt keine Kundenrezensionen vorliegen.

Er wird dadurch zu einer geschäftlichen Entscheidung verleitet, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Das gilt nicht nur dann, wenn er das Fahrrad tatsächlich erwirbt, sondern schon dann, wenn er sich infolge des Irrtums weiter mit dem Angebot befasst, bspw. die Liste mit der Ausstattung des Fahrrades überprüft."


Und weiter:
"Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff der „geschäftlichen Entscheidung“ weit zu definieren (...)  erfasst nicht nur die Entscheidung über den Er­werb oder Nichterwerb des Produktes, sondern auch damit unmittelbar zusammenhängende Entscheidungen wie insbesondere das Betreten des Geschäfts (...). Ebenso hat der BGH das Aufrufen eines Verkaufsportals im Inter­net als eine relevante geschäftliche Entscheidung angesehen (...).

Das Aufrufen einer Produktunterseite, um sich näher mit einem von Kunden vermeintlich besonders gut bewerteten Produkt zu befassen, ist dem Betreten eines Geschäfts oder dem Aufruf eines Portals gleichzustellen."


Die spätere Information auf der einzelnen Produktseite, dass noch gar keine Rezension vorliege, könne diese Irreführung nicht mehr vermeiden.
"Unabhängig davon wird der Irrtum des Verbrauchers durch die Gestaltung der Produktübersichts­seite (...)  aber auch nicht aufgeklärt.

Es mag sein, dass eine in Klammern gesetzte Zahl hinter den Sternen vom Nutzer auf Hinweis auf die Anzahl der Kommentare verstanden wird. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass der Interessent, der ein aus Kunden­sicht vermeintliches Spitzenprodukt aufruft, der Wiedergabe der Sterne auf der folgenden Seite überhaupt noch Aufmerksamkeit widmet; denn aus seiner Sicht hat er die gewünschte Informati­on bereits auf der Übersichtsseite erhalten."


Und weiter:
"Die Aufklärung eines bereits eingetretenen Irrtums erfordert darüberhinaus einen klaren und unmissverständlichen Hinweis (...)). Diese Voraussetzung liegt nicht vor. Die hinter den Sternen angeordnete Zahl ist so klein gehalten, dass die Gefahr des Übersehenwerdens auf der Hand liegt. Dasselbe gilt für den Satz „Leider ist noch kein Eintrag vorhanden“, der in kleiner und dünner Schrift zwischen dem durch schwarzen Fettdruck hervorstechenden Begriff „Kundenbewertungen für..." und dem ebenfalls durch den schwarzen Untergrund blickfangartig hervorgehobenen Button förmlich „eingeklemmt“ ist."


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7. LG München I: 2.500,- EUR DSGVO-Schadensersatz muss Broker Scalable Capital an Kunden zahlen
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Der Broker Scalable Capital  muss wegen einer Datenschutzverletzung an einen Kunden einen Betrag von 2.500,- EUR nach Art. 82 DSGVO bezahlen (LG München, Urt. v. 09.12.2021 - Az.: 31 O 16606/20).

Im Oktober 2020 hatte der bekannte Neobroker Scalable Capital  seinen Kunden mitgeteilt, dass  es zu einem Datenschutzverstoß gekommen sei und unbekannte Dritte bestimmte Informationen der Kunden erbeutet hätten (u.a. Ausweisdaten, Name und Adresse, Wertpapierabrechnungen, steuerliche Daten).

Die Anzahl der betroffenen Kunden wird auf mehr als 30.000 geschätzt.

Einer der betroffenen Kunden verklagte nun das Finanzunternehmen auf DSGVO-Schadensersatz und bekam vor dem LG München Recht.

Das Gericht sprach dem Betroffenen einen Schadensersatz von 2.500,- EUR zu.

Es bejahte klar eine Verletzung der Sorgfaltspflichten nach Art. 32 DSGVO, der eine sichere Datenverarbeitung vorschreibt. Scalable Capital  hatte mit einem IT-Dienstleister in der Vergangenheit zusammengearbeitet, den Vertrag jedoch 2015 gekündigt. Die betreffenden Passwörter, mit denen der IT-Dienstleister Zugriff auf die Systeme von Scalable Capital  nehmen konnte, änderte der Broker jedoch nicht:

"So ist unstreitig, dass die Beklagte die Zugangsdaten für das Unternehmen (...) nach Beendigung der Geschäftsbeziehung nicht geändert hat.

Darauf, wie die Beklagte vorträgt, dass sie davon ausgehen musste, dass die Zugangsinformationen vollständig und dauerhaft seitens (...) gelöscht werden, durfte sie sich im Hinblick auf den großen Umfang (Zugriff auf das vollständige IT-System) sowie aufgrund der Qualität und Sensibilität der gespeicherten Daten nicht verlassen.

Da die Beklagte die Löschung offensichtlich nicht überprüft hat, war es fahrlässig gewesen, die Zugangsdaten seit Beendigung der Geschäftsbeziehung im Jahre 2015 bis zum Zugriff auf die Kundendaten der Beklagten im Jahre 2020 mehrere Jahre lang unverändert zu lassen. Die Beklagte kann sich auch nicht durch die umfangreichen Ausführungen über die technischen und organisatorischen Maßnahmen (TOMs) insoweit entlasten. Unerheblich wäre hierbei im Übrigen, wenn - wie die Beklagte vorträgt, das Dokumentarchiv im Jahr 2015 noch keine Kundendaten enthalten haben sollte. Denn jedenfalls sind diese dann in der Folgezeit in das Archiv aufgenommen worden."


Hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzes führt das Gericht aus:
"Im vorliegenden Fall muss aufgrund des Umfanges und Art der entwendeten Daten des Klägers ein solcher Identitätsdiebstahl angenommen werden, welcher einen Anspruch auf Schadensersatz begründet. (...)

Allerdings muss bei der Bemessung der Höhe des immateriellen Schadensersatzes berücksichtigt werden, dass die streitgegenständlichen Daten offensichtlich bislang noch nicht, jedenfalls nicht zu Lasten des Klägers missbraucht worden sind und von daher allenfalls eine mehr oder weniger hohe Gefährdung angenommen werden kann. Berücksichtigt werden muss jedoch auch - wie oben angesprochen - die gesetzgeberisch beabsichtigte abschreckende Wirkung des Schadensersatzes.

Unter Abwägung dieser gesamten Gesichtspunkte erachtet das Gericht einen (immateriellen) Schadensersatz in Höhe von 2.500, - Euro als angemessen."


Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, sondern kann noch mit dem Rechtsmittel der Berufung angegriffen werden.

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8. VG Osnabrück: Presse hat gegen Stadt Anspruch auf Nennung von Name und Anschrift eines Corona-Demo-Veranstalters
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Mit Beschluss von heute hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts einem Eilantrag der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) (Antragstellerin) gegen die Stadt Osnabrück (Antragsgegnerin) überwiegend stattgegeben. Die Kammer verpflichtete die Antragsgegnerin die Namen und die Wohnorte der Personen, die die Corona-Protest-Demonstrationen in Osnabrück am 4., 11. und 18.12.2021 angezeigt haben, nicht aber deren konkrete Anschriften, zu nennen.

Ein leitender Redakteur der Zeitung hatte sich mit E-Mail vom 14.12.2021 an die Antragsgegnerin gewandt und für die beabsichtigte Berichterstattung um Mitteilung der Namen der Personen gebeten, die die genannten Corona-Protest-Demonstrationen angezeigt haben. Die Antragsgegnerin hatte dies unter Verweis auf datenschutzrechtliche Gründe noch am selben Tag abgelehnt.

Der daraufhin von der NOZ vor dem Verwaltungsgericht gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte überwiegend Erfolg.

Die Antragstellerin habe einen Anspruch darauf, zum Zwecke der Recherche und Berichterstattung die Namen und den Wohnort noch vor der am 18.12.2021 stattfindenden Veranstaltung zu erfahren.

Dieser Anspruch habe seine Grundlage im Niedersächsischen Pressegesetz (NPresseG) (§ 4 Absatz 1). Schutzwürdige private Interessen stünden der Auskunftserteilung letztlich nicht entgegen.

Hier habe eine Abwägung zu erfolgen, im Rahmen derer zwei sich gegenüberstehende Grundrechtspositionen miteinander in Ausgleich zu bringen seien. Auf der einen Seite stehe die dem Auskunftsanspruch zugrundeliegende Pressefreiheit, auf der anderen Seite das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der die Demonstration anzeigenden Personen.

Die von der Kammer vorgenommene Abwägung komme zu dem Ergebnis, dass der Informationsanspruch der Antragstellerin und damit das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegenüber den Rechten der die Demonstrationen anzeigenden Personen überwiege.

Bei dieser Abwägung habe die Kammer berücksichtigt, dass Demonstrationen im öffentlichen Raum von vornherein auf Publizität ausgelegt seien und die Öffentlichkeit ein legitimes Interesse daran habe, zu erfahren, wer hinter einer angezeigten Demonstration stehe.

Die Veranstalter, die für die mediale Aufmerksamkeit mitverantwortlich seien, würden durch die Erteilung der Auskunft nur in ihrer so genannten Sozialsphäre getroffen, einem Bereich ihrer Person, der ihr soziales Verhalten betreffe.

Mit der Weitergabe der Namen und des (bloßen) Wohnortes, somit wahrer Tatsachen, drohe weder eine Stigmatisierung noch eine Gefährdung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Ein verbreitet anzutreffendes Unverständnis für „Corona-Leugner“ und so genannte Impfgegner reiche für eine nachhaltige Schädigung im Ansehen nicht aus. Konkrete Anhaltspunkte für beabsichtigte Übergriffe auf die Veranstalter von derartigen Demonstrationen lägen nicht vor. Demgegenüber bestehe aktuell ein überragendes öffentliches Interesse an der Berichterstattung über Corona-Protest-Demonstrationen, das im Zusammenhang mit dem alle anderen Ereignisse überschattenden Pandemiegeschehen stehe.

Die Antragstellerin habe allerdings keinen Anspruch darauf, neben dem Wohnort auch die vollständige Anschrift der Veranstalter zu erfahren. Insoweit sei ihr Antrag abzulehnen gewesen. Während das Interesse, den Wohnort zu erfahren, durchaus berechtigt sei um zu erfahren, ob „Fremde“ oder „Einheimische“ die Demonstrationen angemeldet hätten, habe die Antragstellerin ihr Interesse an der vollständigen Anschrift nicht hinreichend dargelegt.

Der Beschluss (Az. 1 B 72/21) ist noch nicht rechtskräftig und kann binnen zwei Wochen nach Zustellung mit der Beschwerde vor dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg angefochten werden.

Quelle: Pressemitteilung des VG Osnabrück v. 17.12.2021

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