Eine Strafanzeige einer Altenpflegerin gegen ihren Arbeitgeber rechtfertigt nicht deren fristlose Kündigung. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Strafanzeige den Zweck hatte, Missstände, Personalmangel und Hygieneprobleme im Pflegeheim offenzulegen <link http: www.online-und-recht.de urteile ungerechtfertigte-kuendigung-einer-altenpflegerin-wegen-strafanzeige-gegen-arbeitgeber-28274-08-europaeischer_gerichtshof_fuer_menschenrechte--20110721.html _blank external-link-new-window>(EGMR, Urt. v. 21.07.2011 - Az.: 28274/08).
Bei der Klägerin handelte es sich um eine Altenpflegerin, die ihren Arbeitgeber mehrfach auf Missstände, Überlastung und Personalmangel im Pflegeheim aufmerksam gemacht hatte. Der Arbeitgeber reagierte hierauf nicht. Die Klägerin erkrankte innerhalb weniger Jahre mehrfach stark und war aufgrund ärztlich bescheinigter Arbeitsüberlastung teilweise vollkommen arbeitsunfähig.
Nach einem Kontrollbesuch des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen wurden die Mängel erneut festgestellt. Auch der Rechtsanwalt der Klägerin wies die Geschäftsleitung erneut auf die Mängel hin. Diese wies jedoch alle Vorwürfe erneut zurück. Daraufhin erstatte die Klägerin Strafanzeige wegen Betruges, da hochwertige Pflege beworben und abgerechnet, die Leistung aber tatsächlich nicht erbracht werde. Die Klägerin verteilte auf einer Veranstaltung der Gewerkschaft mit ihren Kollegen Flugblätter, auf denen die Missstände und die Strafanzeige gedruckt waren.
Erst hier erfuhr der Arbeitgeber von der Anzeige. Er kündigte der Klägerin fristlos, wogegen diese gerichtlich vorging.
Die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) stuften die Kündigung als nicht rechtmäßig ein. Während die nationalen Gerichte (u.a. das Bundesarbeitsgericht) die Kündigung als rechtmäßig einstuften, teilten die EGMR-Richter diese Einschätzung nicht.
Die Richter erklärten, dass die "whistleblowing"-Strafanzeige zwar den Ruf des Beklagten beschädigt habe, weil auch die Öffentlichkeit durch Presseberichterstattungen davon erfahren hatte. Jedoch müsse der Beklagte diesen Eingriff in seine Rechte im Rahmen einer Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an den Mängeln im Pflegeheim hinnehmen.
Die Klägerin habe weder böswillig noch ungerechtfertigt gehandelt. Sie habe schon in der Vergangenheit mehrfach auf die Missstände hingewiesen. Nachdem der Beklagte über Jahre nichts an der Situation geändert habe, habe sie sich nicht anders zu helfen gewusst. Die Strafanzeige und der Abdruck im Flugblatt seien von der Meinungsfreiheit gedeckt, so dass die fristlose Kündigung rechtswidrig gewesen sei.