Wer eine einstweilige Verfügung zu erschleichen versucht, indem er die Reaktion des Antragsgegners nicht oder nicht rechtzeitig mittelt, verstößt gegen die prozessuale Wahrheitspflicht. In einem solchen Fall fehlt es dann für die Durchsetzung der Ansprüche am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (KG Berlin, Beschl. v. 15.10.2021 - Az.: 5 W 133/21).
Die Antragstellerin begehrte eine einstweilige Verfügung gegen die Antragsgegnerin wegen bestimmter Werbeaussagen,
Außergerichtlich hatte die Antragsgegnerin bei den Rechtsanwälten der Gegenseite um Fristverlängerung auf die Abmahnung gebeten hatte. Als diese nicht reagierte, fragte sie erneut nach.
Die Antragstellerin reichte daraufhin bei Gericht den Antrag ein, erwähnte jedoch nicht die beiden Fristverlängerungsanträge. Die Advokaten begründeten diese Nichterwähnung damit, dass es sich um ein bloßes Missgeschick handle. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in der Ferienzeit und der bereits fortgeschrittenen Zeit seien die beiden Schreiben "schlicht versehentlich vergessen" worden.
Dies genügte dem KG Berlin.
Das Gericht lehnte die einstweilige Verfügung ab:
"Vorliegend hat die Antragstellerin mit dem Unterlassen der Mitteilung des – von ihr abgelehnten – Fristverlängerungsgesuchs ihren prozessualen Pflichten zuwider vorgetragen. Sie hat das angerufene Gericht nicht vollständig von der gesamten vorprozessualen Korrespondenz, mithin von der vollständigen Sachlage, in Kenntnis gesetzt und so gegen ihre Pflicht zum vollständigen Sachvortrag gemäß § 138 Abs. 1 ZPO verstoßen.
Bereits der Umstand, dass die Antragsgegner um eine Fristverlängerung nachgesucht haben, hätte dem Landgericht mitgeteilt werden müssen. Unerheblich ist, ob die Antragstellerin davon ausging, eine Fristverlängerung brauche nicht gewährt zu werden. Unerheblich ist ebenfalls, ob die Antragstellerin das Fristverlängerungsgesuch als vorgeschoben ansah. Die Antragsgegner haben jedenfalls nach außen dokumentiert, zu der Abmahnung Stellung nehmen zu wollen.
Entscheidend ist, dass die Antragstellerin dem Landgericht diese Reaktion der Gegenseite nicht mitgeteilt hat und es so dem Landgericht nicht ermöglicht hat, auf der Grundlage des gesamten vorprozessualen Sachverhalts zu entscheiden, ob Anlass für eine Beteiligung der Gegenseite bestand und wenn ja, wie diese Beteiligung durchzuführen sei. Diese Entscheidung aber musste die Antragstellerin dem Landgericht überlassen; sie durfte sich nicht gewissermaßen an seine Stelle setzen. (...)
In diesem Zusammenhang ist auch unerheblich, dass im hiesigen Fall von den Antragsgegnern am 30.07.2021 eine Schutzschrift eingereicht worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, dass die Antragstellerin gegen die ihr obliegende prozessuale Wahrheitspflicht verstoßen und sich deshalb prozessual unredlich verhalten hat. Dieses Verhalten wird nicht dadurch ungeschehen gemacht, dass es etwa folgenlos geblieben ist.
Rechtsfolge eines solchen Fehlverhaltens sei der Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für das einstweilige Verfügungsverfahren:
"Die Versagung des Rechtschutzbedürfnisses erscheint auch deshalb sachgerecht, weil sie lediglich dazu führt, dass die Antragstellerin ihren Unterlassungsanspruch nur im einstweiligen Verfügungsverfahren nicht mehr geltend machen kann.
Auf die Anspruchsdurchsetzung in einem etwaigen Hauptsacheverfahren hat dies keine Auswirkungen.
Die Annahme eines Rechtsmissbrauchs im Sinne von § 8c UWG kann hingegen dazu führen, dass der Anspruchssteller mit der Geltendmachung des Anspruchs dauerhaft ausgeschlossen ist (...).
Unabhängig davon, dass Letzteres nicht - gar stets - angemessen erscheint, ist es grundsätzlich nicht unbedenklich, im über nur eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügenden Eilverfahren eine vorweggenommene Entscheidung über die Zulässigkeit einer Klage in der Hauptsache zu treffen."
Entscheidend sei der objektive Pflichtverstoß. Möglicherweise könne in Ausnahmefällen etwas anderes gelten, wenn die fehlenden Informationen nicht durch ein Fehlverhalten verursacht worden seien. Daran seien aber strenge Anforderungen zu stellen, die im vorliegenden Fall nicht erfüllt seien:
"Da stets die Gesamtumstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen sind, kann im Falle des objektiv unredlichen Vortrags ausnahmsweise dann das Rechtschutzbedürfnis als weiterhin bestehend angenommen werden, wenn der in Rede stehende Vortrag zur vorprozessualen Korrespondenz nicht in vorwerfbarer Weise erfolgt, wobei im Hinblick auf Verfahrensbevollmächtigte zu beachten ist, dass gemäß § 85 Abs. 2 ZPO das Verhalten der Verfahrensbevollmächtigten der Partei zurechenbar ist. Dabei setzt der Vorwurf der Unredlichkeit und des Erschleichens eines Titels mehr voraus als bloße (einfache) Fahrlässigkeit. (...)
Soweit die Antragstellerin sich vorliegend darauf beruft, Grund des unterlassenen Vortrags sei eine Arbeitsüberlastung aufgrund der Ferienzeit und der bereits fortgeschrittenen Zeit kurz vor Ablauf der dringlichkeitsschädlichen Frist, weshalb die Aufnahme der beiden Schreiben (...) „schlicht versehentlich vergessen“ worden sei, ist dies ungenügend.
Der Vortrag der Antragstellerin bleibt zu pauschal und vage.
Es fehlt an konkretem und substantiiertem Sachvortrag, der geeignet wäre, das Verschweigen des Fristverlängerungsgesuchs der Antragsgegner und das Verschweigen der inhaltlichen Stellungnahme der Antragsgegner – gerade vor dem Hintergrund der irreführenden Erklärung in der Antragsschrift unter IV. – dahingehend plausibel zu machen, dass es sich nicht als unredlich darstellt. Ein bloßes Vergessen des Fristverlängerungsgesuchs und der inhaltlichen Einwendungen ist gerade angesichts des engen zeitlichen Zusammenhanges zwischen dem Eingang dieser Erklärungen und der Übersendung der Antragsschrift vom 30.07.2021 derart fernliegend, dass es überdies auch nicht glaubhaft ist."